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Gibt es den psychologischen Schönungsmittelbedarf?


Die Frage kann sich jeder selber beantworten. Mit der Zeit stellt sich eine Arbeitsroutine ein. Die Experimentierfreude ist abhängig von Zeit, Lust und Inspiration. Klar ist, dass unüberlegtes Schönen selten zu harmonischen Weinen führt. Klar ist, dass es Erfahrung braucht, die stark reflektiert und situationsbedingt angepasst wird.

Folgende Fragen inspirieren vielleicht. Im besten Fall regen sie eine gemeinsame Diskussion an.

  • Welches sind meine Produktionsziele?
  • In welchen Mengen braucht es welchen Weinstil zu welchem Zeitpunkt?
  • Ist der Wein für den Eigenkonsum oder für eine gewisse Anzahl Konsumenten oder für den Meinungsmacher gedacht?
  • Wie trinkig darf es sein?
  • Kenne ich meine Kundschaft?
  • Wie stark ist das Traubengut belastet?
  • Ist das Waschen der Trauben auf Grund von Pflanzenschutzmittelrückständen, Staub oder Strassenverkehr nötig?
  • Ist eine Sönderung des Traubengutes möglich?
  • Wurde das Lesegut reif geerntet?
  • Beeinflusse ich den pH-Wert oder lebe ich mit der Tatsache?
  • Wenn ich den pH-Wert beeinflussen möchte, mache ich das im Weinberg oder im Tank?
  • Kann die Schönung bereits im Most oder in der Maische durchgeführt werden?
  • Wie trüb darf der Most vergären?
  • Auf welchen Zeitpunkt soll der Wein abfüllfertig bzw. trinkfertig sein?
  • Wie lange soll der Wein lagerfähig bzw. stabil bleiben?
  • Welcher Wein braucht welche Reifezeit?
  • Ist die Extraktion auf die Reife des Traubengutes, den Weinstil und den Abfülltermin angepasst?

«Pech für die Realität, wenn die Dinge komplexer liegen.»

– Cora Stephan

  • Ist der Gärverlauf optimal bzw. Temperaturgesteuert?
  • Sind die beteiligten Mikroorganismen und deren Aktivität bekannt?
  • Braucht es Schönungen zur Reduktion von biogenen Aminen oder anderen Schadstoffen?
  • Ist genügend Zeit vorhanden, damit der Wein sich von selber harmonisieren kann?
  • Sind bestehende Rezepturen zeitgemäss und dem vorliegenden Traubengut oder Wein angepasst?
  • Basieren meine Meinungen über Schönungsmittel auf eigenen Erfahrungen oder auf unreflektierten Aussagen Dritter?
  • Können Verarbeitungsschritte optimiert werden, um Schönungen zu vermeiden?
  • Habe ich das optimale Lagergefäss für den Weinausbau gewählt?
  • Entspricht die Aufwandmenge der Schönung dem Weinstil?
  • Wie verhalten sich die einzelnen Schönungsmittel, wenn sie gemischt werden?
  • Gibt es Alternativen zum Schönungsmitteleinsatz? Wie lassen sich Schönungen vermeiden?
  • Ist der Schönungsmitteleinsatz aromaschonend?
  • Gibt es zwischen den Schönungsmitteln Qualitätsunterschiede? Wie können diese getestet werden?
  • Wurden die Schönungsmittel geruchsneutral, kühl und trocken gelagert?

«Manchmal sind die Fragen wichtiger als die Antworten.»

– Nancy Willard

  • Welches sind die gesetzlich erlaubten Schönungsmittel-Einsatzmengen?
  • Welcher Kohlensäuregehalt stimmt für welchen Weinstil?
  • Wie viel Schwefeldioxid baucht welcher Weinstil?
  • Kann ich durch die Filtration den Schwefedioxideinsatz senken?
  • Wie senke ich überhaupt den Schwefeldioxidbedarf?
  • Wie filtrieren sich Schönungsmittel raus? Ist es gewollt?
  • Welcher Kalium- und Calciumspiegel braucht es für welchen Weinstil?
  • Hat die Kellerhygiene einen Einfluss auf die Weinqualität?
  • Produziere ich ein Natur- oder ein Industrieprodukt?
  • Gibt es anstelle chemischer Produkte physikalische Methoden?
  • Sind meine Vinifikationsnotizen so genau, damit ich Fehler finden und beheben kann?
  • Wie gehe ich mit unterschiedlichen Aussagen seitens der Hersteller oenologischer Produkte um?
  • Wie gehe ich mit wissenschaftlichen Resultaten und deren Schlussfolgerungen um?
  • Wurde die Schönung mittels Vorproben von mehreren Personen im Dreieckstest bestätigt?
  • Können Schönungsvorproben an ein externes Labor delegiert werden?
  • Soll der Verschluss als oenologische Massnahme dienen oder einfach perfekt verschliessen?
  • Werden die Weinflaschen aromaschonend in einem temperaturgesteuerten Lager (12°C) gelagert?
  • Wieso gibt es in der Schweiz keinen Wein, mit einer jährlichen Auflage von 200’000 Flaschen, zum Preis von 45.- CHF die Flasche (75 cl), bei welchem der Konsument das Gefühl hat, er müsse teurer sein?

Dazu einige Gedanken:

Kundenorientierte Produktion


Zu wissen, welcher Weinstil in welcher Menge für welche Kundschaft produziert werden soll, hilft zu planen. Tönt logisch, wird selten umgesetzt. Oft werden mal Weine produziert. An wen diese verkauft werden sollen und zu welchen Konditionen, ergibt sich irgendwie. «Trial and Error» ist als Methode nicht prinzipiell zu verachten, braucht einfach Zeit und sehr viel Geld.

Wer eine klare Strategie festlegt und diese über mehrere Jahrzehnte umsetzt, wirkt unflexibel und starr. Ist vielleicht in der heutigen Zeit erfrischend anders? Wein entsteht mit der Natur. Da sind Werte gefragt, die über Generationen hinweg funktionieren dürfen, also nachhaltig sind.

Qualität entsteht im Rebberg


Es ist ein offenes Geheimnis: Wein entsteht im Rebgarten. Natürlich ist es möglich, das in der Natur geschaffene Potential reifer Trauben im Weinkeller zu 100% zu zerstören. Nicht immer erwischt man den optimalen Lesezeitpunkt. Deshalb ist es wichtig, önologische Verfahren und Hilfsmittel nicht nur anzuwenden sondern auch zu verstehen. 

Zum Handwerk gehören Wissen, Beobachtungsgabe, Experimentierfreude, Geduld, Ausdauer und Mut.

Vieles ist im Weinhandwerk nicht so klar ersichtlich. Die Natur lässt sich schlecht planen. Anstatt sich dagegen zu wehren, wieso nicht spielerisch damit umgehen?

Zum Beispiel:

  • Andere Anbaumethoden ausprobieren.
  • Die Reife des Lesegutes durch zwei Lesezeitpunkte vergleichen.
  • Die Produktion dem Jahrgang anpassen.
  • Erntemengen und Ausbeuten nicht nur dem Verkauf sondern auch dem Standort, der Sorte und der Weinstilistik anpassen.
  • Eingangskontrollen durchführen und dokumentieren.
  • Gärende Moste und Maischen unter dem Mikroskop beobachten.
  • Wissen statt glauben.
  • Messen statt vermuten.
  • Probieren statt verhauen.
  • Reflektieren statt verharren.
  • Erfahrungen selber machen und sich so notieren, dass sie nicht vergessen werden.
  • Ein Weinarchiv über das eigene Schaffen sammeln und regelmässig verkosten. Rückschlüsse daraus ziehen und mit den Vinifikationsnotizen abgleichen. (Das können nebst wichtigen Verkaufsweine auch Versuchsweine oder Einzelflaschen aus Vorproben sein.)
  • Spannende Weine aus anderen Regionen degustieren und analysieren.
  • Abgefüllte Weine über mehrere Tage verkosten und beurteilen (gelagert im Kühlschrank ohne Schutzgas)
  • Nicht nur einfach verkaufbare Mainstream-Weine vinifizieren, mal was Spannendes ausprobieren.
  • Analysen korrekt messen, und auf Grund der Ergebnisse Qualität reproduzieren.
  • Den Zufall durch den Irrtum ersetzen.

Faktor Zeit


Der Faktor Zeit ist entscheidend.

Beurteilt werden kann vielleicht nach:

  • 20 Jahren eine neue Rebsorte und deren Standort.
  • 10 Jahren eine neue Vinifikationsmethode.
  • 5 Jahren ein neuer Flaschenverschluss.
  • 2 Jahren ein neues Schönungsmittel.
  • 3 Monaten nach Blüte die Traubenreife.
  • 4 Wochen die SO2- Stabilität eines abfüllfertigen Weines.
  • 3 Tagen die Schönungsmittelvorprobe.

Dafür braucht es Geduld. Die gute Nachricht ist, solche Zeithorizonte lassen sich prima planen. Ebenso ist genügend Zeit für das Reflektieren der eigenen Arbeit und das Gespräch mit Gleichgesinnten. Wir operieren nicht am offenen Herzen. Entscheide können auf Grund wohl überlegter Fakten und Informationen getroffen werden. Die Beschaffung von Wissen ist heutzutage (w)einfacher. Schwierig ist es, dieses Wissen zu hinterfragen. Viele Informationen sind für das eigene Schaffen nicht relevant. Wissen muss manchmal durch eigene Experimente bestätigt werden. Was in anderen Weinbauregionen oder Sorten funktioniert, ist für das eigene Werkeln unbrauchbar. Und wenn schon ausprobieren, wieso nicht eigene Betriebsabläufe und Methoden von Zeit zu Zeit hinterfragen? Dafür braucht es nicht gleich einen Berater. Branchenfremde haben von Aussen manchmal den besseren Überblick. Wieso nicht mal dem Zimmermann oder dem Hauselektriker erklären, was man tut?

Dabei nicht vergessen, dass Entscheidung selber getroffen werden müssen. Somit ist auch klar, wer die Konsequenzen daraus trägt.

Für ein permanentes, strukturiertes Lernen finde ich den Regelkreis nach Benedikt Weibel hilfreich:

 

Alternativen


Zu den gängigen Schönungsmittel gibt es oft Alternativen. Folgend eine kurze Liste:

  • Hefeschönung mit Hefen aus eigener Gärung
  • Traubenkerne aus eigenem Traubengut während des Ausbaus extrahieren
  • Ganztraubenvergärung mit vollreifem Lesegut
  • Mostoxidation
  • Mikrooxigenation (findet auch natürlich statt)
  • Kohlensäure einstellen auf Grund von Weinstil, Alkohol- und Gerbstoffgehalt
  • Schwefeldioxidbedarf stabilisieren
  • Säure harmonisieren
  • Kalium- und Calciumspiegel auf Grund des Weinstils einstellen
  • Extraktionsverfahren wählen auf Grund des Weinstils anstelle technischer Möglichkeiten
  • Wein- und Jahrgangsverschnitte

Hygiene


Die Anforderung an die Kellerhygiene ist sehr persönlich. Das fängt mit Traubenwaschen an und hört vielleicht mit der Aussenreinigung von Depotharrassen auf. Es gibt 1’000 Möglichkeiten Hygiene zu definieren und umzusetzen. Es ist auf jeden Fall eine unendliche Geschichte, die ständig bewusst umgesetzt werden sollte. Auch dabei helfen eine feine Nase und Beobachtungsgabe.

Food Fraud


Food Fraud (Lebensmittelbetrug) ist ein ständiges Thema, auch im Wein. Wo fängt es an? 

Folgend einige heikle Bereiche, die je nach Konsument, sehr sensibel ausgelegt werden können:

  • Deklaration allergener Schönungsmittel
  • Alkoholgehalt
  • Large Gebietsverschnittregelungen in Kombination mit Sortenverschnitte
  • Gemeinde wird zur Lage, weil mehrere Gemeinden fusionierten
  • Naturweine
  • Bioweine
  • Produktion von «Schweizer Wein» oder «Landwein» in einer renommierten AOC-Region
  • Traubenaufkäufer, die ihre Weine vinifizieren lassen und sich als Weingüter präsentieren
  • Süssung
  • Aromatisierung
  • Physikalische Verfahren
  • Etikettenschwindel bei sehr teuren Weinen

Literaturquellen:

(Angaben kopieren und in einer Suchmaschine einfügen)

  • «Behandlungs- und Zusatzstoffe», Vorlesung Studenten, Volker Schneider
  • «Zauberpulver und ähnliche Formen önologischer Magie», ein Winzermärchen von Volker Schneider, Die Winzer-Zeitschrift, 12/2007
  • «Bentonite im Vergleich», Volker Schneider, Zeitschrift «Der Winzer», 07/2007
  • «Säuremanagement in Most und Wein», Volker Schneider, Geisenheimer Berichte Band 81, Gesellschaft zur Förderung der Hochschule Geisenheim, Geisenheim, 2016
  • «Optimierung der Haltbarkeit und Aromastabilität fruchtiger Weissweine», Volker Schneider, Geisenheimer Berichte Band 85, Gesellschaft zur Förderung der Hochschule Geisenheim, Geisenheim, 2017
  • «Tanninmanagement und Redoxführung in Rotweinen», Volker Schneider, Geisenheimer Berichte Band 89, Gesellschaft zur Förderung der Hochschule Geisenheim, Geisenheim, 2018
  • «Einfluss der Reife auf die Phenolextraktion», Dominik Durner et al., das deutsche Weinmagazin, 25. August 2018 (16/17)
  • «Schönung und Stabilisierung», Robert Steidl, Verlag Eugen Ulmer KG, Stuttgart, 2004
  • «Testfiltration Mannoprotein», Spotlight D-12-2016, Keller Fluid Pro
  • «Technologie des Weines», Jochen Hamatschek, Verlag Eugen Ulmer KG, Stuttgart, 2015
  • «Chemie des Weines», Gottfried Würdig und Richard Woller, Verlag Eugen Ulmer KG, Stuttgart, 1989
  • «Kellerton oder Korkgeschmack», Horst Rudy, das deutsche Weinmagazin, 3/ 6. Februar 2010
  • «Nicht nur sauber, sondern rein», Ulrich Hamm et al., das deutsche Weinmagazin, 21/ 17. Oktober 2009
  • «Von der Schublade ins Hirn», Benedikt Weibel, 3. Auflage 2012, Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich
  • «Food Fraud», Dr.-Ing. Andreas Müller, DLG Expertenwissen 11/2018, DLG e.V., Fachzentrum Lebensmittel, Frankfurt am Main

Michael Hänzi, Witterswil, Juli 2019